Leere Räume

 

Anselm Wagner

 

 

I

 

Als ich das erste Mal den Pariser Stadtteil La Défense besuchte, hatte ich ein seltsames Erlebnis. Es kam mir vor, als befände ich mich nicht in der Realität, sondern in einer Simulation derselben. Wie in einem 1:1-Modell oder einer 3D-Animation. Ich fühlte mich wie die Figur in einem Computerspiel, die in einem grenzenlosen, in alle Richtungen fluchtenden abstrakten Raum herum geschoben wird.

Es ist nicht ganz einfach zu begründen, warum dieser Effekt zustande kam. Die Gebäude der ab den 1950er Jahren am Reißbrett geplanten modernistischen Modellstadt La Défense stehen am Endpunkt einer knapp zwölf Kilometer langen Achse, die im Louvre beginnt und über die Champs Elysees und den Arc de Triomphe Richtung Nordwesten führt, um bei Neuilly die Seine zu überqueren und in einer gigantischen schrägen Betonplatte, der „Esplanade“, zu münden, die den Hügel vor Nanterre bedeckt. Diese rund 1.000 Meter lange und im Schnitt 100 Meter breite Platte von La Défense dient als Präsentationsteller der umstehenden Wolkenkratzer, als autoverkehrsfreie Piazza für die Fußgänger (die Querstraßen sind ein Geschoß tiefer versenkt) und als Dach des U-Bahnhofes darunter. An klaren, smogfreien Tagen (was höchst selten vorkommt) sieht man von diesem erhöhten Aussichtsplatz bis ins Zentrum von Paris. Ich denke, es ist diese Platte, dieses merkwürdige Produkt aus barock-absolutistischer Axialität und modernem Kontrollwahn, und nicht die mehr oder weniger futuristische Skyline inklusive der berühmten „Grande Arche“, die für den Simulatonseffekt von La Défense verantwortlich ist. Die ehemals unregelmäßige Fluss- und Hügellandschaft vor den Toren der Stadt wurde nicht nur reguliert und bebaut, sondern mit einer rein geometrischen Fläche überzogen, die neuer Erdboden, Dach und Wand in einem ist. Die Leere und Homogenität dieser Fläche ist ebenso absolut wie sie das klare Bewusstsein vermittelt, nur eine dünne Haut über dem Bauch der neuen Stadt zu sein und – im Sinne des Foucaultschen Überwachungsdispositivs[1] – völlige Kontrolle über alles, was sich auf ihr regt und bewegt, zu ermöglichen (geradezu ideale Bedingungen für Überwachungskameras bzw. Scharfschützen auf den Dächern ringsum). Es ist diese spezifische Mischung aus Euphorie und Angst, Kontrolle auszuüben und ihr zugleich unterworfen zu sein, welche modernistische Architektur mit ihren reduzierten geometrischen Leer-Formen so oft vermittelt und zur Quelle ihrer bereits sprichwörtlichen Unheimlichkeit wird[2] und in ähnlicher Form in den künstlichen Universen etwa der Ego-Shooter-Computerspiele wiederkehrt: nicht ohne Zufall nennt man das diesbezügliche Steuerungsgerät für Playstation und X-Box „Controller“.

Räume und Objekte in Computersimulationen erzeugt man mithilfe von errechneten Koordinatennetzen, die mit einer Oberfläche „eingekleidet“ werden und dann als Mensch, Auto, Straße oder Hauswand lesbar sind. Das heißt, dass diese Simulationen ausschließlich aus virtuellen „Hohlkörpern“ bestehen, ähnlich wie bei der Skelettbauweise von Hochhäusern, deren Stahlbetongerüst mit Vorhangfassaden aus Glas überzogen wird. Während es in der Realität erhebliche Unterschiede zwischen der Körperlichkeit eines Menschen, einer Felswand und einer Glasscheibe gibt, können diese Unterschiede am Bildschirm nur durch Farbe und Form simuliert werden; ihre Struktur ist hingegen völlig identisch. Letztlich gibt es am Bildschirm nur eine einzige große, homogene Gitternetzstruktur, die sich je nach Bedarf in unterschiedlichen Gestalten ausstülpt.

Dieses Verfahren ist, wie gesagt, durch die moderne Architektur vorbereitet worden. In Manhattan bestimmt dieses Gitternetz eine ganze Stadt, und in der Allmachtsphantasie der mythischen Figur des Spiderman, der die Ängste, die er verkörpert, nur schwach kaschiert ins „Gute“ wendet, kommt dieses ganz zu sich: die Stadt als gigantisches Spinnennetz, in der sich der Held auf Boden, Wänden und in der Luft unterschiedslos bewegen kann. Es gibt keine wesentliche Differenz zwischen dem, sagen wir, Straßenbelag der Fifth Avenue und der Fassade des Empire State Building: Beide überziehen sie riesige Hohlräume, und jeder Punkt darin bietet eine kontrollier- und steuerbare Aktionsbasis.

Die Flächen und Räume der Moderne sind von einer prinzipiellen Reinheit und Leere gekennzeichnet. Ihr ultimatives Material ist Glas, das sich idealerweise selbst zum Verschwinden bringt, indem es die Umgebung eindringen lässt oder diese spiegelt. Auch die ideale Oberfläche anderer Materialien wie Marmor, Stahl oder Holz ist in der Regel spiegelglatt: So will es die Materialästhetik der Banken und Konzerne. Unregelmäßige Formen, raue Oberflächen, die das Licht schlucken, Schattenzonen, optische Hindernisse und tote Winkel würden dem Ideal absoluter Beherrschbarkeit zuwiderlaufen: Fremde Keimlinge könnten in das sterile Ambiente eindringen, unbemerkter Schmutz könnte sich ansammeln, das gesamte System destabilisieren und ins Chaos stürzen. Die Moderne wurde in der Klinik geboren, im Kampf gegen Typhus und Cholera, im Triumph von Asepsis und Desinfektion.

Neben wuchernder Vegetation ist es vor allem Schmutz, der sich in der Computersimulation am schwersten darstellen lässt. Er wirkt immer wie ein seltsames, im Labor hergestelltes Pulver, ebenso rein wie alles andere, dem man seine Maskerade nur mit gutem Willen abnimmt. An existenziellen Ekel, wie in Sartre vor dem Klebrigen empfunden hat, ist hier nicht im Entferntesten zu denken.[3] Schmutz kann es per definitionem in dieser errechneten Welt auch gar nicht geben, ist er doch, wie die Anthropologin Mary Douglas sagt, „wesentlich Unordnung. Schmutz als etwas Absolutes gibt es nicht.“[4] Vor Schmutz muss selbst eine fraktale Geometrie scheitern.

Die strukturelle Ähnlichkeit von moderner Architektur und digital simulierten Räumen trägt schließlich im CAD (computer aided design bzw. drawing), im rechnerunterstützten Konstruieren, das seit den späten 80er Jahren in die Architekturbüros Einzug hielt, seine Früchte. Fachleute können an den realisierten Gebäuden sogar erkennen, welches Programm bei der Planung zur Anwendung kam. Immer häufiger kommt es zu einer Art „CAD-Effekt“, der bewirkt, dass ein real gebauter Raum die Anmutung eines am Bildschirm erzeugten virtuellen besitzt. Dass Anlagen wie jene von La Défense, die vor der CAD-Ära geplant und großteils auch gebaut worden ist, diesen Effekt gewissermaßen vorwegnehmen, zeigt nur, dass das technische Hilfsmittel lediglich einen Willen zur reinen Geometrie und Kontrolle finalisiert, der seinem Ursprung nach bereits viel älter ist.

 

 

II

 

Klaus Schusters Bilder sind bis ins letzte Detail am Bildschirm entworfen und ausgeführt. Es sind reine Konstruktionen, Produkte des CAD. Was mir an ihnen als erstes auffällt, ist ihre Leere. Diese Leere hat mehrere Dimensionen bzw. Aspekte. Zunächst: Schusters Bilder sind absolut menschenleer. Das kommt besonders bei jenen Sujets zu Tage, die üblicherweise von Menschen bevölkert sind und die man in der Realität nur selten so einsam vorfindet: Häuserzeilen, Gassen, Wohnzimmer, Saunas, Spielhöllen und dgl. Spürbar wird diese Leere auch in seinen Stillleben, wo die Grundfläche jeweils bis an den oberen Bildrand reicht, obwohl dies zur Darstellungskonvention (etwa der Produktfotografie) gehört und man hier nicht mit dem Auftauchen von Personen rechnet. In einigen Prints, wie „Super Boxe“ oder „Flag“, die ein Mittelding zwischen Interieur und Stillleben bilden, driftet der Blick an dem präsentierten Objekt vorbei in die Leere des Raumes, wo man den Eindruck hat, als wäre die Kante zwischen Boden und Wand nicht erfahrungsgemäß in wenigen Schritten erreichbar, sondern wie ein ferner Horizont entrückt. Während der Bodenbelag in „Super Boxe“ und besonders „Flipper“ eine haptisch erfahrbare Nähe verspricht, entzieht sich die Rückwand durch monochrome Unbestimmtheit oder ist hinter einem schwarzen Vorhang verborgen, der alles in sich verschluckt. Das beschert den Dingen eine radikale Einsamkeit, die jene der Stillleben-Objekte noch übertrifft.

In vielen Bildern fehlt auch jede Spur, die ein Mensch hinterlassen haben könnte. In der Sauna liegen kein Handtuch und kein Schwamm, im Zimmer keine Zeitung, am Gehsteig keine weggeworfenen Zigarettenkippen. Alles ist makellos und unberührt, auch wenn Schuster häufig die triste Durchschnittlichkeit biederer Vorstädte und keineswegs nur perfekte Designerwelten imaginiert. Gerade darin liegt die unheimliche Wirkung dieser Bilder: dass etwas höchst Gewöhnliches und Vertrautes, etwas, das Heimeligkeit suggeriert, plötzlich fremd und „unheimelig“ wird.[5]

Am offensichtlichsten ist die Menschenleere bei jenen Bildern, die sich an ursprünglich mit Figuren bevölkerten Vorbildern orientieren, wie bei „Madonna“ und „Medici“. In der Hollywoodschaukel hatte Popstar Madonna ihr Kinderbuch präsentiert, und hinter dem Baugerüst der Firma Medici hatten fünf junge Männer für den hyperrealistischen Maler Franz Gertsch posiert. Schusters Auseinandersetzung mit diesem Schlüsselwerk des Fotorealismus besitzt zudem die Pointe, dass seine Bilder wie die von Gertsch auf den ersten Blick wie Fotos aussehen – wenngleich ihre Machart diametral verschieden ist. Während Gertsch mit seiner Feinmalerei eine phosphoreszierende Mikrostruktur erzeugt, die im Foto nicht vorhanden ist, werden bei Schuster die Materialoberflächen CAD-gemäß bereinigt und homogenisiert. Vergleicht man „Medici“ mit seiner Vorlage, so fällt auf, dass Schuster nicht nur die Figuren entfernt, sondern das Bild noch weiter entleert hat, indem der Raum vor dem Geschäftseingang vertieft und die Strukturen von Steintreppe und Wandverkleidung geglättet wurden. Die abgetretene, leicht verdreckte, verwitterte, stellenweise brüchige und unterschiedlich marmorierte Treppe verwandelt Schuster in einen metallisch glänzenden Teppich, der sich schmiegsam seiner Grundform anpasst, während die Treppenwangen rechts und links zwar mit einer lebhaften Marmorierung versehen sind, die aber mehr wie eine Marmortapete wirkt. Das gilt für alle Strukturoberflächen - durch ihr Regelmaß sehen sie immer wie Materialimitationen aus; egal, ob es sich um die Waschbetonplatten vor dem „One Hotel“, den Bretterboden von „Fell“ oder den Stoffbezug des Sofas im „Zimmer“ handelt. Auch diese Flächenfüllungen reagieren auf eine prinzipielle Leere: Während die Moderne im Brustton der moralischen Überzeugung Materialgerechtigkeit forderte, wurde die schweigende Reinheit ihrer blanken Flächen als Einladung an den kleinbürgerlichen Horror vacui verstanden, mit Fototapeten, Resopalplatten und Laminatböden in Eiche, Marmor und Ziegel diese Leere zu übertünchen, ganz so, wie Kinder in der Dunkelheit laut singen, um ihre Angst zu vertreiben.

„Leere“ als Strukturprinzip ist also bis ins Detail zu beobachten; sie bildet den wesentlichen Eindruck der porenlos glatten, versiegelten, polierten, selbst bei angedeuteten Gebrauchsspuren und unregelmäßigem Reliefs immer immateriell, ungreifbar und hauchdünn wirkenden Oberflächen; sie gähnt unter diesen Flächen, und sie beherrscht die Räume zwischen den Dingen.

In Schusters Bildern ist die Leere ein Effekt der Ordnung und Perfektion, aber auch des Wunsches nach Dekoration, Gemütlichkeit, Stimmung. Der moderne Ruf nach der Tabula rasa braucht keine buchstäblich leeren Flächen mehr, er kann sich auch in den schmiedeeisernen Herzchen einer Hollywoodschaukel verwirklichen. Diese Paradoxie gelingt Schuster vor allem durch die Wahl seiner spezifischen Technik sichtbar zu machen.

Die psychologische Entsprechung zur Leere, die Einsamkeit, wurde bereits erwähnt. Als ästhetisches Gefühl ist sie eine Erfindung der Romantik, die in Schusters Bildern höchst selten aufkommt. Einsamkeit begegnet hier ohne Melancholie und Sentiment. Anstelle des abwesenden Subjekts treten ein Flipperautomat, ein Boot oder ein Wohnwagen, die aus ihrer unbeschwerten Freizeitaktivitätszone heraus gefallen und in einer Art eisiger Vorhölle gelandet sind. Den Geräten selbst merkt man nichts an, so, wie es ist, scheint es irgendwie normal für sie zu sein. Selbst im „Wohnwagen“, der halb in einem arktischen Gewässer versinkt, brennt noch Licht und werden die Straßenlaternen eines abwesenden Campingplatzes auf seiner blitzblanken Karosserie reflektiert.

Thematisch und stilistisch bezieht sich Schuster meist auf die 60er und 70er Jahre, die Zeit seiner Kindheit und zugleich die letzte Phase der Moderne (und eines aus heutiger Sicht kindlichen Glaubens an ihre Versprechen). Mit Hilfe der CAD-Technologie verleiht er diesen Versprechen eine Reinheit und unheimliche Präsenz, die einerseits zeigt, wie sehr die aktuelle Medienwirklichkeit moderne Utopien in die Gegenwart verlängert hat, und andererseits diese Utopien in perfekter Weise aushöhlt, sodass nur mehr ihre dünne, schillernd-glänzende Haut übrig bleibt.



[1] Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2005 (Orig. 1976)

[2] Vgl. Jeff Wall, Dan Grahams Kammerspiel, in: ders., Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews, hg. v. Gregor Stemmrich, Amsterdam-Dresden 1997, S. 89-187, hier S. 144ff (Orig. 1982); Anthony Vidler, The Architectural Uncanny. Essays in the modern unhomely, 5. Aufl. Cambridge/MA 1999 (1. Aufl. 1992)

[3] Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, 4. Aufl. Reinbek 1997, S. 1033-1047 (Orig. 1943)

[4] Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a. M. 1988, S. 12 (Orig. 1966)

[5] Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: ders., Studienausgabe Bd. IV, Frankfurt a. M. 2000, S. 241-274, hier S. 244